Im September 2010 erschien im Wirtschafts- und Kulturmagazin "Brand Eins" folgender Beitrag (Auszüge):
Eine Rebellion nach Noten Brand
Eins, September 2010 Text:
Jakob Vicari
Cuxhaven hatte eine ganz normale Musikschule: ein Direktor, zwei Büroangestellte, 20 Lehrer. Dann ging der Stadt das Geld aus. Vor fünf Jahren haben deshalb die Lehrer den Betrieb
übernommen.
909 öffentliche Musikschulen gibt es in Deutschland. Die meisten sind kommunale Einrichtungen, ein Drittel ist wie die Musikschule Cuxhaven als Verein organisiert. Doch nur in Cuxhaven kommen sie
ohne Direktor aus.
Schief gespielte Melodienfetzen dringen in den Flur der Musikschule. Die logiert in den oberen Etagen einer Grundschule im Stadtteil Ritzebüttel. Auf den ersten Blick hat sich nichts geändert,
seit kein Chef mehr da ist. Im schwarzen Auftrittsanzug steht der Schlagzeuglehrer Boris Moench im heruntergerockten Unterrichtsraum. "Ich versuche, dich jetzt aus dem Konzept zu bringen", sagt
Moench zum 15-jährigen Lukas am Schlagzeug gegenüber. Und während Lukas stur den Takt halten soll, dreht Moench am Schlagzeug auf und singt auch noch mit. Moench ist ziemlich gut darin, andere
aus dem Takt zu bringen. Zum Beispiel die Musikschullandschaft.
Im Jahr 2005 war das Ende absehbar. Die Stadt Cuxhaven hatte eine Bedarfszuweisung vom Land erhalten, im Gegenzug musste sie massiv sparen. Bis 2005 bekam die Musikschule von Stadt und Landkreis
189 000 Euro. Nun sollten es noch 70 000 Euro sein, entschied der Stadtrat. "Das haben wir aus der Zeitung erfahren", sagt Boris Moench. Eine solche Kürzung konnte man nicht mit höheren Gebühren
auffangen, nicht mit Sponsorengeldern oder Einsparungen, das war allen sofort klar. Der Verein "Jugendmusikschule Cuxhaven" beschloss seine Selbstauflösung. Den Angestellten wurde
gekündigt.
Alle lamentierten, man müsse etwas tun. Moench tat etwas. "Als klar war, dass das Ende kommt, musste ich mir etwas überlegen", sagt Moench. "70 000 Euro Zuschuss sind eine Menge Geld", dachte er.
Er überlegte nicht, was war, sondern was ging. Er entwickelte ein neues Modell für eine Musikschule, eines, das auf Unternehmergeist beruht, nicht auf Hierarchien. "In Deutschland ist die
Vorstellung, dass geleitet wird, immer an eine Person geknüpft. Nein, wir sind neun Schulleiter. Das ist alles."
Zu einem Treffen im März 2005 waren sieben Lehrer der Musikschule erschienen, um miteinander über die Zukunft zu reden. Die sieben gründeten einen Verein.
Im bisherigen Verein "Jugendmusikschule e. V." waren Direktor, Verwaltungsmitarbeiter und Musiklehrer Angestellte. Auch Moenchs Modell beruht auf einem Verein. Femic e. V. heißt es: für eine
Musikschule in Cuxhaven. Er bündelt das Engagement der selbstständigen Musiklehrer. Der Clou: Jeder Musiklehrer verwaltet sich selbst, als Freiberufler. "Das System ist billiger, den Leuten geht
es besser bei der Arbeit", sagt Moench.
Klaus Behncke ist Vorsitzender des neuen Vereins. Er schiebt den Stuhl an den hellen Flügel, der schon jeden falschen Ton gehört hat. "Achte auf die Achtel, Justyn!", sagt er zu seinem Schüler,
der neben ihm an einem Klavier sitzt. Seit 18 Jahren unterrichtet Behncke Klavier und Keyboard. Er will Spaß am Spiel vermitteln. Im Unterricht klingelt plötzlich sein Handy. Eine Schülerin sagt
ab. "Weiter geht's", sagt er zu seinem Schüler und steckt das Mobiltelefon weg. "Das hätte früher die Verwaltung erledigt, sagt Behncke. "Dass wir das selbstverwaltet hingekriegt haben, hätte
niemand gedacht."
Alle Entscheidungen treffen sie basisdemokratisch als Aktivmitglieder im Verein. Die Verwaltung teilen sie sich, die Bürodienste ebenso. Mehr Geld von der Stadt gibt es für Projekte. "Das sind
Sachen, die die Stadt machen will", sagt Heike Rüther, die in der Stadtverwaltung für die Musikschule zuständig ist. Die Musikschule unterstützt die Kommune bei der Lösung ihrer Probleme in
Kindertagesstätten, Stadtteilen und bei der Ganztagsschule. "Die übernehmen Projekte auf Zuruf. Diese Flexibilität bringt uns viel", sagt Rüther. Wenn das Haus der Jugend, eine Kindertagesstätte
oder ein Stadtteil ein Musikprojekt starten will, können sie die Leistung bei der Musikschule einkaufen. Der Verein entwickelt dann eine Idee und findet einen Lehrer.
"Eine Schule ist für mich die Summe der Lehrer-Schüler-Beziehungen", sagt Boris Moench. Wenn man ihm zuhört, käme man nicht auf die Idee, dass man eine Musikschule sinnvoll anders organisieren
kann, als er sich das ausgedacht hat.
Abends sitzen die Musiklehrer um den Tisch im Direktorenzimmer. Gerade haben sie ihre Aktivmitgliederversammlung abgehalten. Klaus Behncke hatte ein Blatt hochgehalten und gefragt: "Das Protokoll sieht so aus: Hat jemand was dagegen?" Jetzt gibt es Schnittchen, Salat und Sekt. Sie feiern fünf Jahre neue Musikschule in Cuxhaven. Behncke hat keine Rede vorbereitet. "Wahrscheinlich gibt es draußen eine Menge Leute, die gehofft haben, dass wir es nicht schaffen", sagt er nach kurzem Zögern, "aber wir sind immer noch da." "Was läuft da für Musik?", fragt irgendwann Moench. Es ist die neunte Sinfonie von Antonín Dvorák. Sie heißt "Aus der Neuen Welt".
© 2010 brand eins |
Anmerkung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde der Originaltext gekürzt und auf Auslassungspunkte verzichtet. Der Originaltext ist ungekürzt in der
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